DHS HERBSTSEMINAR 2004: Koexistenz und Toleranz
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- Kategorie: DHS
- Zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05. Mai 2019
- Geschrieben von DHS-Webteam LG
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Das DHS HERBSTSEMINAR 2004 fand vom 24. bis 26.09.2004 in Hedersleben statt, Sie finden hier zwei Teilnehmerberichte.
THEMA: KOEXISTENZ – eine Frage von Toleranz?! Schwerhörige in einer hörenden Welt
Inge Mohrenstecher, Detmold
Zu dieser Veranstaltung fanden sich 38 TeilnehmerInnen (inkl. der beiden Referenten, zwei stellvertretenden DHS-Vorsitzenden und drei Dolmetscherinnen) aus allen Himmelsrichtungen in der Internat/Tagungsstätte im ehemaligen Zisterzienserkloster Hedersleben am Ostharz ein.
Gut organisierter Ausflug nach Quedlinburg
Die meisten konnten einander schon am Donnerstagabend begrüßen und am drauffolgenden Freitag den gut organisierten Bus-Tagesauflug in die UNESCO-Weltkulturerbe-Stadt Quedlinburg mitmachen.
Beim Rundgang in zwei Gruppen gaben sich die beiden mit Mikrofon ausgerüsteten Stadtführer große Mühe, deutlich zu sprechen und Interessantes aus der Geschichte und Restaurierung der schönen alten Fachwerkstadt zu erzählen.
Nach dem gemeinsamen Lokalmittagessen konnten wir noch auf eigene Faust umherstreifen, "shoppen", Kaffee trinken oder den Schlossberg mit herrlichem Rundblick erklimmen, bevor's zum reichhaltigen Abendbuffett zurück "ins Kloster" ging.
Der Freitagabend stand ganz im Zeichen der Vorstellungsrunde und der Einführung ins Thema "Koexistenz - Hörbehinderte in einer hörenden Welt" durch den uns vom Vorjahr bereits bekannten Diplom-Psychologen Oliver Rien. Die erste Aufgabe lautete: "Schreibt auf, worauf Ihr in Eurem Leben stolz sein könnt und tauscht euch darüber jeweils zu zweit aus!"
Wie viel "Schätze" hier zusammengetragen wurden, konnten wir am Samstagmorgen auf die Leinwand "gebeamt" nachlesen! Der anschließend von drei Sprechern vorgetragene und gleichzeitig mitlesbare "Brief eines Unbekannten" berührte ebenfalls stark.
"Koexistenz" heißt Beziehung, und diese kann nur funktionieren, wenn ich auch eine gute Beziehung zu mir selbst habe.
Die innere Quelle stärken
In diesem Zusammenfang führte Herr Professor Langer (Kommunikationswissenschaftler an der Uni Hamburg) eine kleine Übung mit uns durch; einige TeilnehmerInnen äußerten ihre Schwierigkeiten, sich auf sie einzulassen und ihren Sinn zu verstehen. Anderen jedoch, auch mir persönlich, tat es gut, mal nicht konzentriert und angespannt, sondern ganz ruhig dazusitzen, tief durchzuatmen und dankbar zu spüren: "Ich bin da! Ich bin bisher durchgekommen, wenn auch mit der einen oder anderen Blessur - und werde auch weiterhin durchkommen!"
Es ist wichtig, sich der eigenen Einzigartigkeit und Mitte wie auch der eigenen Begrenzung bewusster zu sein und sich von einer inneren Quelle der Stärke und Wertschätzung her zu definieren. Selbstbewusstsein heißt nicht absichtlicher Einsatz von Macht (auf Kosten des anderen), sondern sich seiner selbst bewusst zu sein, sich zu erspüren, bei sich zu schauen. Dies ist eine gute Basis für eine nicht von Forderungen und Frustrationen, sondern von gegenseitiger Wertschätzung und Annahme geprägte und somit entspanntere Kommunikation mit anderen. Die innere Haltung: "Ich möchte dir zuhören und dich aufnehmend begleiten!" spürt der andere.
Was einer der anwesenden Hörenden in einer späteren Diskussion ganz unkompliziert sagte, hat mich sehr beeindruckt: dass er seine Partnerin in ihrer Gesamtheit und nicht nur als Behinderte sehe. Und wenn er mal das „Auf-sie-zu-sprechen" vergesse, gebe sie ihm einfach "eins ins Kreuz" - und dann sei's wieder okay.
Einer der beiden Referenten merkte später hierzu an: Liebe nimmt gelegentliche Fehler nicht so schlimm!
Unsere Persönlichkeit hat viele "Äste"
In der Tat bestehen wir Hörbehinderten doch nicht nur aus "(Schlapp)Ohren", sollten wir uns nicht allein über die Hörschädigung "definieren"; vielmehr haben wir (hoffentlich) auch noch andere Themen und Interessen. Wir dürfen stolz auf Geleistetes und Erreichtes sein, aber wir sollten nicht der Gefahr erliegen, die übrigen Anteile unserer Persönlichkeit nicht mehr wahrzunehmen. Mittels einer Skizze wurde uns veranschaulicht: wenn immer nur der eine "Ast" (der Hörbehinderung) wächst, nimmt er den anderen Ästen Luft weg!
Eine ältere Teilnehmerin sagte, sie habe ihr Ertaubungsschicksal nicht zuletzt auch dadurch meistern können, dass sie stets viele Interessen und Hobbys gepflegt habe.
Raus aus dem Kreislauf der Hilflosigkeit
Der Sonntagvormittag sah uns in zwei "Arbeitsgruppen" aufgeteilt; u.a. sollte ein Rollenspiel zur Thematik "Kreislauf von Hilflosigkeit und Bestärkung derselben" versucht werden.
Für das "Publikum" wie auch für die "Akteure" selbst war es beeindruckend, eine allmähliche Veränderung im Verhalten des hörenden Mannes und seiner hörbehinderten Frau mitzuerleben: er nahm sich in seiner gutgemeint fürsorglichen Haltung nach einer Weile ein wenig zurück, sie fühlte sich zunehmend dazu befreit, ihre Probleme im gemeinsamen Bekanntenkreis selber zum Ausdruck zu bringen (z.B. die allerseits auf sie gerichtete Aufmerksamkeit, wenn sie ihres Mannes Dolmetschen von Witzen nicht sofort versteht) und mehr auf ihre Bedürfnisse zu schauen.
Die ,mitspielende' Dritte, ein "alter Hase", berichtete, wie sie sowohl ihr Unterhaltungsbedürfnis als auch das Bedürfnis nach etwas, was ihr gut tut (wie Gymnastik/Schwimmen/Wandern o.ä.) durch zeitliche Aufteilung zu lösen gelernt hat - beides gleichzeitig geht ja für uns Hörgeschädigte nun mal meistens nicht.
Und wenn wir unseren normalhörenden Mitmenschen Bescheid sagen, dass wir in bestimmten Situationen nicht unbedingt alles mitbekommen müssen, sondern zum Beispiel gern mal ungestört in die Natur schauen oder schwimmen oder kegeln oder sonst etwas für unser Wohlbefinden tun möchten, dann entlastet es diese von unnötig schlechtem Gewissen.
Fazit: Der Hörbehinderte sollte nicht zu viel abgeben und sich als "unterlegenes Würstchen" fühlen; der Normalhörende sollte dem Hörbehinderten nicht zu viel abnehmen und ihn dadurch "klein" machen, sondern ihn auch fragen: Was brauchst du, um deine Belange selbständig regeln zu können?
Aus dem Abstand von vier Wochen kann ich heute sagen, dass das eine oder andere aus diesem Seminar in meinen schwierigen Lebensumständen weitergewirkt hat, dass sich Schritt um Schritt einiges zum Besseren bewegen lässt, sobald erstmal innerlich ein Veränderungsprozess eingesetzt hat.
Ich versuche bewusster darauf zu achten, was eigentlich mit und in mir geschieht und was mit/in meinem Nächsten - ebenso, was ich für mich brauche, um weiterhin "durchkommen" zu können (auch in den jüngsten, durch die chronische Krankheit meines Mannes bedingten Turbulenzen).
Dieser Bericht soll auch ein Dank sein an die Organisatoren Michael Gerber und Marion Strömer und die Referenten Herr Prof. Langer und Herr Rien sein und natürlich an die drei bewährten Gebärden- und Schreibdolmetscherinnen Käthe & Martina Rathke und Monika Widners, die uns optimales Verstehen ermöglichten - und ein Stückchen "Gegengewicht" zu manchen Forderungen nach mehr "Konkretion" oder strafferem Seminarablauf!
Vielleicht hat sich das Inhaltliche (zu diesbezüglichen Rückmeldungen hatte es im Schlussplenum leider nicht mehr gereicht) bei späterem Nachdenken und eventuellem Umsetzen ja noch mehr erschlossen.
Bericht über das HERBSTSEMINAR 2004 aus anderer Sicht
Gisela Büschbell, Leverkusen
Von der DHS wurde wieder ein Seminar angeboten. Das Thema „Hörbehinderte in einer hörenden Welt" würde sicher viele Mitglieder interessieren, wie auch mich. Der Seminar-Ort sollte ein altes Kloster in der Nähe von Quedlinburg sein, für mich fast eine Tagesreise. Aber da die „neuen Länder" für mich Neuland sind, fasste ich den Entschluss: „Da fährst du hin!"
Im Service-Center im Kölner Hauptbahnhof galt es die erste Hürde zu nehmen. Vor den Schaltern bewegten sich die „Ringelnattern " nur sehr langsam vorwärts, so dass ich meine Fahrkarte mit fast einstündigem Warten erkaufen musste. Gelobt sei das Internet!
Der große Tag der Abreise kam heran. Es hieß dann früh aufstehen, denn es war fünfmaliges Umsteigen angesagt mit den entsprechen den Wartezeiten. Aber die Bahn ist besser als ihr Ruf: auf der Hin- und Rückreise gab es keine nennenswerten Verspätungen.
Eine schöne Überraschung beim Umsteigen in Halberstadt: da war doch ein bekanntes Gesicht? Ilse Noah! Große Freude und angeregte Unterhaltung bis zum Ausstieg am Zielbahnhof Wedderstedt. Dort fanden sich noch mehr Teilnehmer ein und wir wurden von zwei weiblichen „Klostergeistern" in zwei Autos verfrachtet und waren in kurzer Zeit in der riesengroßen gepflegten ehemaligen Klosteranlage. Dort bekamen wir gleich unsere Zimmerschlüssel und durften ein Weilchen die schönen modern eingerichteten Zimmer und die Atmosphäre im uralten Klostergemäuer genießen.
Doch lange Ruhe war uns nicht vergönnt, schließlich waren wir ja zum Arbeiten angereist. Nach dem gemeinsamen Abendessen hat Michael uns dann miteinander bekannt gemacht und es gab viel Freude darüber, „alte Bekannte" wieder zu sehen. Käthe und Marina haben fleißig gebärdet, Marion unermüdlich den PC mit Overhead-Projektor „bearbeitet". Selbstverständlich hat Michael auch für die Ringverstärker gesorgt, so dass eigentlich alle den Beiträgen folgen konnten. Leider waren die Lichtverhältnisse im ganzen Kloster nicht ideal und bereiteten einigen Teilnehmern Schwierigkeiten. Das war aber nicht vorhersehbar.
Zum Seminarablauf selbst kann ich aus persönlicher Sicht sagen, dass Professor Inghard Langer und Oliver Rien sehr viel schriftliches Material vorbereitet und verteilt hatten, mit dem wir arbeiten konnten. Leider ist dann alles zu sehr in die Theorie abgedriftet, so dass die Praxis zu kurz kam.
Aber in der Nachbetrachtung hat sich doch sehr viel Wertvolles als Resultat ergeben, so dass auch dieses Seminar wieder als gut gelungen gelten kann.
Sehr bereichernd waren auch die vielen Gespräche untereinander, oft bis in die Nacht hinen.
Ein besonderes „Schmankerl" war auch die gut vorbereitete Stadtführung im nahen Quedlinburg. Wir hatten sehr engagierte Stadtführer, die uns viel aus der reichen Geschichte der alten Kaiserstadt vermittelten und uns die besonderen Schönheiten der Fachwerkbauten aus mehreren Jahrhunderten nahe brachten.
Ich hoffe, dass alle 30 Teilnehmer mir zustimmen, dass auch dieses Seminar wieder ein Gewinn für uns alle war und dass wir uns aufs nächste Mal freuen.
Übrigens ist das Thema "Koexistenz - eine Frage der Toleranz" auch schon 2003 im HERBSTSEMINAR der Deutschen Hörbehinderten Selbsthilfe e.V. behandelt worden: Hier geht's zu den Teilnehmerberichten.